Es ist Allgemeinwissen, dass das sogenannte Wirtschaftswunder in den 1950er Jahren stattfand. Lange bevor 1961 die ersten Türken nur sehr widerwillig nach Deutschland geholt wurden. Die Industrie sah keine Verwendung für sie und setzte auf gut ausgebildete Fachkräfte. Es gab sogar innerdeutsche Abwerbeversuche wie die Kampagne „Jupp, komm noch Bayern!“, um Fachkräfte aus dem Ruhrgebiet in das damals noch strukturschwache Bayern zu locken. Die Industrie warb mit üppigen Löhnen, Betriebsrenten und sicheren Arbeitsplätzen um jeden einzelnen Arbeiter. Mit Werkswohnungen und sogar Einfamilienhäusern sollten ganze Familien an die Betriebe gebunden sein.
Bei seinem Türkeibesuch hat Außenminister Wadepuhl im Interview mit der türkischen Zeitung Hürriyet ein anderes Märchen erzählt. Deutschland hätte seinen Wirtschaftswunder den Türken (mit-) zu verdanken. Im Netz gibt es für diese infame Lüge erheblichen Gegenwind:
- Mehrere Nutzer wiesen auf die historische Ungenauigkeit des Posts hin und betonten, dass das deutsche Wirtschaftswunder in den späten 1940er Jahren mit der Währungsreform von 1948 und dem Marshallplan begann, also vor dem Anwerbeabkommen mit der Türkei von 1961.
- Kritiker stellten klar, dass türkische Gastarbeiter erst nach Beginn des Wirtschaftsbooms kamen und in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Wachstum beitrugen, es aber nicht auslösten, was durch wirtschaftliche Wachstumsdaten in einer Antwort gestützt wurde.
- Einige Reaktionen warfen dem Auswärtigen Amt vor, die Geschichte zu verfälschen, um politische Ziele zu verfolgen, insbesondere im Kontext aktueller diplomatischer Bemühungen mit der Türkei, etwa im Rahmen von NATO und G20.
- Nutzer äußerten Frustration über eine vermeintliche Anbiederung an die Türkei und verwiesen auf das Interview mit der Zeitung Hürriyet sowie deren nationalistisches Motto „Türkiye Türklerindir“ als Beleg für Voreingenommenheit.
- Der Post löste eine Debatte über die anhaltende Diskriminierung von Menschen türkischer Herkunft in Deutschland aus, wobei das Interview des Außenministers dies als weiterhin bestehende gesellschaftliche Herausforderung ansprach.
- Aktuelle Spannungen in den deutsch-türkischen Beziehungen, wie die türkischen Militäroperationen in Syrien und die Festnahmen deutscher Staatsbürger, wurden indirekt als Hintergrund für den diplomatischen Ton des Posts genannt.
- Die Genehmigung des Eurofighter-Exports an die Türkei durch die aktuelle CDU/CSU-SPD-Regierung, die eine frühere Blockade aufhob, wurde als mit dem Narrativ des Posts verbundene politische Wende erwähnt.
Und hier die Fakten. Wer hat die Türken nach Deutschland geholt und das deutsche Volk nach Strich und Faden belogen?
Fast alle Anwerbeabkommen für Gastarbeiter fallen unter die Zuständigkeit der Unionsregierungen. 1968 war mit Willy Brandt als Vizekanzler erstmals ein Sozialdemokrat daran beteiligt. Hier eine kleine Auflistung:
- 1960: Anwerbeabkommen mit Spanien (Kabinett Adenauer III)
- 1960: Anwerbeabkommen mit Griechenland (Kabinett Adenauer III / Konstantinos Karamanlis)
- 1961: Anwerbeabkommen mit der Türkei (Kabinett Adenauer III / Cemal Gürsel)
- 1963: Anwerbeabkommen mit Marokko (Kabinett Adenauer V)
- 1963: Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Südkorea (Kabinett Erhard I)
- 1964: Anwerbeabkommen mit Portugal (Kabinett Erhard I / Américo Tomás)
- 1965: Anwerbeabkommen mit Tunesien (Kabinett Erhard I)
- 1968: Anwerbeabkommen mit Jugoslawien (Kabinett Kiesinger / Mika Špiljak)
Ursprünglich sollten die türkischen Gastarbeiter nach zwei Jahren zurück in ihre Heimat kehren und per Rotationssystem durch Nachfolger aus der Türkei ersetzt werden. Doch es kam alles ganz anders. Die Gastarbeiter blieben und durch Familiennachzug stieg ihr Anteil in den Siebziger Jahren an.
