Alle verurteilen den Diktator vom Bosporus und wenden moralische Maßstäbe an. Haben aber gerade das verlogene Merkelsystem und der passive deutsche Michel das Recht solche Kriterien anzuwenden?
Bevor sich also so manche Leser über die unteren Thesen empören werden, sollten sie überlegen, was sie dem türkischen Präsidenten konkret vorwerfen und ob sie tatsächlich an die „Erpressung“ glauben. Machen doch viele Wirtschaftsdressen mit der Migration dicke Geschäfte (Stichworte: Migration als Waffe, Asylindustrie). Warum soll gerade die Türkei hier ihre geopolitischen Top-Chancen nicht nutzen? De facto leistet Ankara der ihr feindlich gesinnten EU „Polizeidienste“ zum Nulltarif. Denn die 6 Mrd. € für einen Zeitraum von vier Jahren (!) – 2016 bis 2019 – sind eine zweckgebundene Kostendeckung (1). Das unterstreichen bei jeder Gelegenheit die EU-Oberen, wenn sie sie würden das Erdogan-Regime nicht unterstützen.
Erdogan weiß sehr wohl über die hierzulande jährlich verpulverten „Migrantenmilliarden“ von 40 Mrd. € (manche Quellen nennen einen höheren Betrag). In diesem Kontext ist es eigentlich eher verwunderlich, dass er schon nicht früher mehr verlangte. Er wäre dumm, wenn er bei dem (wohl?) jetzt zur Verlängerung anstehenden „Deal“ nicht einem satten Aufschlag verlangen würde.
Die Türkei ist eine aufstrebende Wirtschaft, die Investoren anzieht
Eigentlich braucht die Türkei das Geld nicht. Viele Gutmenschen wissen es nicht, dass das Land kontinuierlich zu einer Wirtschaftskraft heranwächst, die mit einem Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 2,3 Bill. USD bereits 2018 (2) Italien eingeholt hatte. Weil es aber 20 Millionen mehr Türken als Italiener gibt ist das BIP Pro-Kopf noch um ein Viertel geringer.
Trotz der erratischen Aufs und Abs kann der neue Star am Bosporus international ein hervorragendes Wirtschaftsklima aufweisen und belegt Rang 33 von 185 Ländern – Italien muss sich mit Platz 58, begnügen, Europameister Deutschland ist auch nicht gerade ganz oben mit seinem Rang 22. (3)
Erdogan gelingt es die Gefahr einer Wirtschaftskrise zu stoppen, von der immer die Rede ist. Der Lira-Zerfall und die Inflation werden seit zwei Jahren erfolgreich stabilisiert, die Golfstaaten erfüllen Ankara jeden Kreditwunsch. Die Türkei ist zudem fest in das anlaufende Seidenstraßen-Projekt integriert, die Zusammenarbeit mit Russland und den sprachlich verwandten Ländern Mittelasiens wird verstärkt. Selbst die Börse (Index ISE) hat sich auf Lira-Basis nicht schlechter entwickelt als unser DAX. Der Volkswirt wird den einstigen „kranken Mann am Bosporus“ als ein mit starken Schwankungen dynamisch wachsendes Schwellenland einstufen. Zugegeben, häufige „Wirtschaftsturbulenzen“ schaffen temporäre Unsicherheiten. Investoren zogen 2019 ihr Kapital massiv zurück, kommen aber wieder zurück.
Man muss kein Erdogan-Freund sein um schnell zu merken, wie unsere realitätsfremden Medien die „Pleite“ des Landes uns einzureden versuchen – eine billige Fake News. (4) Hier können wir lange warten. Was wurde uns nicht alles erzählt, wie stark Russland unter den Westsanktionen leide!
Die heutigen Wirtschaftsprobleme kann Ankara selbst überwinden – „EU-Almosen“ braucht sie nicht
Nur Laien und Rechenschwache werden angesichts des obigen Kurzporträts noch behaupten wollen, Ankara sei „scharf“ auf die (umgerechnet) 1,5 Mrd. € EU-Flüchtlingsgelder jährlich und möchte diese Einnahme gerne direkt in sein Staatshaushalt integrieren. Solcher „Peanuts“ – Ausdruck wurde vom Ex-Deutsche Bank-Chef Hilmar Kopper vor einem Vierteljahrhundert kreiert – machen weniger als 1% des Budgetvolumens aus.
Wetten, dass…! Das feige Deutschland wird bald mehr zahlen.
Der charismatische Despot vom Bosporus wird sich sagen, sollen doch die dummen Deutschen zahlen, schon deswegen, weil sie uns nicht in der EU haben wollen. Wenn sie für „ihre“ zwei Millionen Migranten – auf meinem Territorium befinden sich noch doppelt so viele „Hilfesuchende“, die kann ich ihnen jederzeit nachliefern – jährlich das dreißigfache ausgeben, während selbst das Kriegsmaterial ihrer Streitkräfte verrostet, müssen sie unendlich viel Geld haben. Also auch wenn ich das doppelte verlange, vielleicht direkt für meine Staatsfinanzen, werden diese Feiglinge zahlen. Vielleicht packe ich in mein Forderungspaket noch einige Zusatzpunkte (NATO-Engagement in Syrien, Auslieferung der geflohenen Putschisten) herein. Mal sehen!
Was lernen wir daraus? Recep Erdogan ist die falsche Adresse an dem wir unsere Wut wegen der Flüchtlingsmisere auslassen sollen. Vielleicht hilft er uns ungewollt, weile er Europa zur Akzeptanz „hässliche Bilder“ an ihrer Grenze zwingt?
Es könnte gut sein, das viele Deutsche heute die Türkei gerade wegen ihrem „starken Mann“ und des wachsenden Prestiges in der Welt beneiden.
Dr. Viktor Heese – Finanzanalyst und Fachbuchautor; www.prawda24.com, www.finanzer.eu