Mein ganz persönlicher Mauerfall | QPress

Mein ganz persönlicher MauerfallMein Enkel Elias ist 8 Jahre alt. Er gehört damit schon zur Generation „Fridays for Future“, macht sich aber eher nichts aus der Klimabewegung. Greta ist ihm ziemlich egal. Es ist für ihn einfach zu abstrakt. Unsere 92.000 Einwohnerstadt Düren im Rheinland ist nicht unbedingt eine Schönheit. Die Nachlässigkeit einiger Bewohner ruft da schon eher meinen Enkel auf den Plan. Er versteht nicht, warum viele Mitbürger einfach ihren Müll auf die Straße werfen, obwohl der nächste Mülleimer keine 10m entfernt steht. Umweltschutz ist wichtig. Das versteht er.

Als ich ihn vor wenigen Tagen, abends ins Bett brachte, fragte er mich, was der „Mauerfall“ sei. Ich erklärte ihm, dass es bis vor 30 Jahren zwei Deutschland gab, die alte Bundesrepublik Deutschland und die Deutsche Demokratische Republik und das beide Deutschland durch eine Grenze, und in Berlin durch eine Mauer, getrennt waren. Vor 30 Jahren wurden die Grenzen geöffnet, weil die Menschen nicht mehr eingesperrt sein wollten. Deutschland wurde danach wieder ein einheitliches Land.

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Er schaute mich wissbegierig an und fragte weiter: „Habt ihr da schon gelebt?“ Meine Antwort: „Na klar, selbst Dein Papa ist noch in der DDR geboren und die Mama in der alten Bundesrepublik. Papa war damals nicht viel älter, als Du. Würde die Grenze heute noch bestehen, gäbe es Dich gar nicht, weil Mama und Papa sich nie kennengelernt hätten. Die Menschen in der DDR konnten nicht einfach dorthin reisen, wo sie wollten.“ Seine Augen wurden immer größer und mir wurde schlagartig klar, dass 30 Jahre, aus der Sicht eines Kindes, beinahe unfassbar sind.

Mein erstes Leben

Ich bin heute längst pensioniert und als Oberstleutnant a.D. aus der Bundeswehr ausgeschieden. 40 Jahre lang war ich Soldat, davon zunächst 16 Jahre in der NVA (Nationale Volksarmee) und dann 24 Jahre in der Bundeswehr.

Mein erstes LebenBeide Systeme, Sozialismus und Kapitalismus, durfte ich hautnah miterleben und weiß was es heißt unfrei zu sein und in einer Diktatur aufzuwachsen, ja selbst Teil dieser Diktatur gewesen zu sein. Als Soldat hätte ich diese Diktatur ggf. mit der Waffe in der Hand verteidigen müssen. Ich war nach dem Mauerfall besonders darüber froh, dass in den Jahren der Teilung nie Deutsche Ost auf Deutsche West in einem Krieg schießen mussten.

Leider kann man das von den mindestens 140 Toten an der innerdeutschen Grenze nicht sagen, die bei Fluchtversuchen aus der DDR in den Westen, von Grenzsoldaten erschossen wurden. Hier galt der Schießbefehl des DDR-Regimes, der die jungen Wehrpflichtigen zwang, im Falle der Republikflucht, auf  Flüchtige zu schießen.

Bestimmte Tage in seinem Leben vergisst man einfach nicht. So weiß ich noch genau, wo und wann ich vom Tod Lady Dies erfahren habe oder wo ich war, als am 11. September die Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Center einschlugen. 1989 war es etwas anders, weil ab September beinahe jeder Tag ein Ereignis bereit hielt und ich den Eindruck hatte, dass sich die Erde irgendwie schneller drehte, als bisher. Wo war ich eigentlich am 9. November 1989, als die Mauer fiel?

Zunächst begann für mich im August 1989 ein neues Kapitel. Ich hatte gerade die Militärakademie „Friedrich Engels“ mit „Auszeichnung“ absolviert und wurde ins Ministerium für Nationale Verteidigung, nach Strausberg versetzt. Mit 33 Jahren, als „Oberoffizier Landstreitkräfte“, im Dienstgrad Major, war ich einer der jüngsten Stabsoffiziere des Ministeriums. Ich war ein Kind dieses Staates, war in der DDR aufgewachsen und stand politisch im großen und ganzen hinter der Idee des Sozialismus. Bildung und Erziehung waren darauf ausgerichtet, treue sozialistische Persönlichkeiten (so sagte man damals) zu erziehen. Dennoch, Zweifel regten sich spätestens auch bei mir, als ich ins Berufsleben eintrat. Die Idee von Gleichheit, Gerechtigkeit und sozialer Sicherheit hatte schon etwas faszinierendes. Allerdings spürte ich an vielen Ecken, dass es in der Praxis ganz anders aussah. Gleichheit wurde zu Gleichmacherei, Eigeninitiative war nicht gefragt.

Ich bin kein Schaf

Die gesetzlich festgeschriebene Entfaltung der Persönlichkeit gab es nur auf dem Papier. Die Partei (SED) sagte wo es lang geht und wer da nicht mitzog, wurde schnell zum Staatsfeind erklärt. Ich fand, dass der Sozialismus schlecht gemacht sei und „Glasnost und Perestroika“, wie unter Gorbatschow, auch uns gut tun würden. Viele Dinge waren einfach nicht in Ordnung. Kritik konnte man ungestraft nur üben, solange man nicht an den Grundfesten des Sozialismus rüttelte. Ich hatte Anfang der 80iger Jahre leidvoll erfahren, welche Auswirkungen es haben kann, wenn man all zu laut Kritik übt. Aber das ist eine Geschichte, die ich gerne an anderer Stelle erzähle. So ordnete ich mich, nach dieser schmerzlichen Erfahrung, zwangsläufig dem Prinzip „Schnauze halten, weiter dienen“ unter und ließ die geballte Faust lieber in der Tasche.

Ich bin kein SchafJa, ich war im Spätsommer 1989 stolz im Ministerium für Nationale Verteidigung gelandet zu sein. Meine Karriere wäre wohl so verlaufen, dass ich irgendwann zumindest den Sprung auf einen herausgehobenen Dienstposten geschafft hätte. Aber es kam ganz anders, denn nur wenige Monate später fiel die Mauer. Eigentlich sollte man doch denken, dass ich zu dieser Zeit gar kein Interesse daran haben konnte, dass der Staat, der mir ein gesichertes Einkommen gab, aufhörte zu existieren. Andererseits spürte natürlich auch ich die Unfreiheit, die politische Propaganda, das fehlen echter Demokratie, die marode Wirtschaft, die kaputte Infrastruktur und den Mangel, der allgegenwärtig war und auch mein Leben Tag für Tag bestimmte.

Es war erst wenige Tage her. Am 19. August nahmen die ersten DDR Bürger ihr Schicksal selbst in die Hand und flüchteten bei einem Paneuropäischen Picknick, über die ungarische Grenze in den Westen. Die offizielle DDR Propaganda produzierte eine „Räuberpistole“ nach der anderen, um von den wahren Ereignissen abzulenken. Niemand wollte so recht an die „Märchen“ glauben. Viele hatten die Möglichkeit, sich über das West-Fernsehen und das Radio der anderen Seite frei zu informieren. Da halfen auch die Attacken eines Karl-Eduard von Schnitzler nichts, denn sein „Schwarzer Kanal“ war längst als Propagandaschleuder verrufen. Auch ich hörte zu dieser Zeit, fast ausschließlich den RIAS (Radio im Amerikanischen Sektor). Mein damaliger Unterabteilungsleiter Oberstleutnant Schaf, erwischte mich dabei einmal während des Dienstes. Das war aus seiner Sicht natürlich äußerst verwerflich und so hat er mir dies nachdrücklich verboten. Beeindrucken konnte er mich damit jedoch nicht, denn ich war kein „Schaf“.

Wir sind das Volk

Ab dem 4. September 1989, gingen die Menschen dann zunächst in Leipzig, und später auch in anderen Städten, wie Berlin, Dresden, Wittenberg und Plauen auf die Straßen und forderten mehr Demokratie ein. Sie riefen vor allem „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt“ und „Wir sind das Volk“. Das war klug, denn alle Maßnahmen, die gegen diese Demonstrationen ergriffen wurden, richteten sich damit gegen das „Volk“. Die Staatsorgane waren von der Größe der Demonstrationen völlig überrascht.

Inzwischen liefen der DDR die Menschen davon. Tausende flüchteten im September in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Am 30. September konnte der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher verkünden, dass deren Ausreise in die Bundesrepublik erstritten wurde und die DDR Führung unter dem politischen Druck bereit war, Zugeständnisse zu machen. Dieser Erfolg erhöhte natürlich den Wunsch nach Freiheit bei den meisten DDR Bürgern.

Am 7. Oktober waren in Plauen 15.000 Demonstranten auf der Straße und in Leipzig zog am 9. Oktober ein gewaltiger Demonstrationszug mit 70.000 Teilnehmern um den Ring. Es war schwierig geworden, dies als Pöbel abzutun und ein Eingreifen, wie in China im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens, konnte und wollte man sich nicht leisten. Das heißt aber nicht, dass es seitens der Sicherheitskräfte keine Gewalt gab. Besonders in Plauen und Berlin gab es um den 7. Oktober noch zahlreiche Übergriffe und Verhaftungen durch die Polizei. Der friedliche Protest, war eigentlich immer bedroht und wurde manchmal nur zufällig, durch fehlende Weisungen der Staats- und Parteiführung auf der Straße gehalten.

Der tägliche Wahnsinn

Anfang Oktober hatte mein Antrag auf eine neue Wohnung in Strausberg Erfolg. Unserer 4-köpfigen Familie wurde eine 4 Zimmer Wohnung mit 67m² zugewiesen, in einem Plattenbau mit 4 Eingängen, je 8 Mietparteien. Das war der normale Standard und überhaupt kein Luxus. Man wohnte Tür an Tür mit denselben Menschen, mit denen man tagsüber in der gleichen Behörde arbeitete. Der Bau stammte aus den 60iger Jahren. Auf dem Fußboden lag noch das alte Linoleum, dass mit der Zeit geschrumpft war und den Blick auf den Beton zwischen den Bahnen frei gab. Die alten Rippenheizkörper waren zwar durch modernere Flachheizkörper ersetzt worden, aber die Sockel, auf denen die alten Heizkörper ehemals standen, hat man einfach stehen lassen. Die Tapeten waren abgewohnt. Im Bad fand ich 8 Schichten Ölsockel, die runter mussten.

Der tägliche WahnsinnDie graue Einbauküche war wohl auch mehr als 20 Jahre alt. Immerhin, wir freuten uns, dass wir eine Wohnung hatten. Um die Miete mussten wir uns keine Sorgen machen. Diese waren für Jedermann erschwinglich. Der Mietpreis lag, meiner Erinnerung nach bei 120 DDR Mark. Nebenkosten brauchte man nicht befürchten, denn auch die waren schon in der Miete berücksichtigt. Überhaupt waren die „Waren des täglichen Bedarfs“ (so hieß das) staatlich subventioniert. Ein kg Brot war für 78 Pfennig zu haben und das Brötchen kostete 5 Pfennig. Für eine Straßenbahnfahrt musste man lediglich 20 Pfennig bezahlen, in manchen Großstädten gar nur 15 Pfennig. Dafür war ein Fernseher kaum unter 4.000 Mark zu kriegen, wenn man ihn denn überhaupt kaufen konnte, denn vieles war Mangelware. Ich verdiente für damalige Verhältnisse nicht schlecht und ging monatlich mit 1.200 Mark nach Hause.

Luxus Made in DDR

Das größte Problem war deshalb auch nicht die Renovierung, die vor mir lag, sondern die Beschaffung des Materials in der allgegenwärtigen Mangelwirtschaft. So lief ich mir die Hacken ab und rannte von Pontius zu Pilatus. Ich brauchte vor allem Fußbodenbelag, Raufasertapeten, Farbe, neue Sanitärkeramik und Fliesen. In den Geschäften wurde ich nur milde belächelt und auf spätere Lieferungen vertröstet.

Der Chef unseres Bereiches Organisation, Generalleutnant Leistner, hatte eine hübsche, 23 Jahre alte „Vorzimmer-Dame“, mit dem klangvollen Namen „Marietta“. Ich hatte mich ein wenig in sie verguckt. Aber wir waren beide in festen Händen. Eines einte uns dennoch. Sie hatte zu gleicher Zeit eine Wohnung erhalten und stand vor denselben Problemen wie ich. So tauschten wir uns damals desöfteren aus. Unsere Wege haben sich in den Dreißig zurückliegenden Jahren mehrfach gekreuzt. Bis heute ist unser Kontakt nicht abgerissen.

Luxus Made in DDRImmerhin gelang es mir, in den nächsten Wochen, alles bis auf Badewanne und Fliesen in der näheren Umgebung zu finden. Wasch- und Toilettenbecken waren sogar farbig (braun). Das war schon etwas besonderes. Fliesen und Badewanne besorgte schließlich mein Schwiegervater aus Sachsen. Die Fliesen 15×15 waren einfarbig rosa glasiert. Sie waren alles andere, als wir uns wünschten, aber es gab nur die eine Farbe und wenn man da nicht zuschlug, hatte man eben gar keine. Um den Fliesenspiegel ein wenig aufzuhübschen, ging ich zu einem Glaser, in der Hoffnung ein paar Spiegelfliesen zu finden. Die kriegte ich auch, allerdings alles 2. Wahl mit kleinen Fehlern. Es war dennoch purer Luxus. So war man immer gezwungen kreativ zu sein und irgendwie klappte es dann noch mit allem. 

Rosa ist auch ganz schön

Nun fehlte uns noch eine neue Schrankwand für unser Wohnzimmer. Die alte wollten wir nicht mitnehmen. Sie hätte wohl einen neuen Aufbau nicht schadlos überstanden. Im nahen Berlin sahen wir im Möbelhaus „Zeulenroda“ unseren Traum einer Schrankwand. Leider konnten wir diese weder kaufen, noch bestellen. Gerade war eine Lieferung eingegangen, die aber sofort ausverkauft war. Eher zufällig erfuhren wir, dass sich ein Interessent eine Wand unverbindlich bis 18:00 Uhr reserviert hatte. So harrten wir eisern, bis zum Termin aus und waren überglücklich, als er bis 18:00 Uhr nicht erschien. Damit war die Schrankwand unsere. Das war wie ein Sechser im Lotto.

Die Montagsdemonstrationen waren zu einer festen Größe geworden. Am 7. Oktober ließ sich die Partei- und Staatsführung in Berlin noch ein letztes mal feiern und inszenierte einen Aufmarsch der FDJ (Freie Deutsche Jugend) und eine Militärparade, anlässlich des 40. Jahrestages der Gründung der DDR. Auch Michael Gorbatschow war eingeladen. Statt der Partei- und Staatsführung zuzujubeln, ertönten die Rufe „Gorbi, Gorbi, Gorbi …“. Gorbatschow erklärte noch am Vorabend, vielsagend den überlieferten Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. An jenem 7. Oktober verließ Gorbatschow vorzeitig die Festveranstaltung und flog nach Moskau zurück. Kaum war Gorbatschow abgereist, wurden tausende Regimegegner in Berlin verhaftet.

Der Wind hat sich gedreht

Im Oktober beschloss dann das Politbüro, keine Waffengewalt gegenüber friedlichen Demonstranten anzuwenden. Zu groß wäre der mediale Schaden gewesen, hätte man die andauernden Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Gleichzeitig schwanden von Tag zu Tag Macht und Einfluss Erich Honeckers. Am 18. Oktober wurde er von den eigenen Genossen gestürzt und Egon Krenz als Nachfolger inthronisiert. Das sollte wohl der erhoffte finale Befreiungsschlag werden und die politischen Gegner besänftigen.

Ich erfuhr davon aus dem Autoradio. Es war ein Mittwoch, als ich mit meinem Trabi gerade von Strausberg nach Bad Frankenhausen, wo wir damals noch wohnten, unterwegs war. Ich war alleine und bei mir brachen alle Dämme meiner innersten Gefühle. Ich war zunächst tatsächlich befreit, obwohl mir schon klar war, dass Egon Krenz auch keine Lösung sei. Aber der verhasste Honecker, für den man sich eher schämte, war weg und nur das zählte in diesem Moment! Es war ein Etappensieg, nicht mehr.

Schon am 10. September 1989 hatte sich die Bürgerbewegung „Neues Forum“ gegründet. Damit hatten die oppositionellen Kräfte auch erstmals eine Organisation, um ihre Interessen zu artikulieren. Ihr Ziel war es nicht, die DDR zu beseitigen, sondern den Staat DDR zu reformieren. In all dieser Zeit erlebte ich, in mitten eines Ministerium, die Hilflosigkeit derer, die bisher immer eine Lösung parat hatten. Am 4. November gab es auch in Berlin eine Großdemonstration, zu der vor allem die Künstler aufgerufen hatten. In zahlreichen Reden wurden Forderungen nach Veränderungen laut.

Für den 12. November 1989 plante dann das Neue Forum, in Strausberg eine Demonstration für „Freie Wahlen, gegen Machtmissbrauch und Korruption“. Im Vorfeld riefen die alten Genossen auf, uns gegen diese Demonstration zu stellen und sie zu verhindern. Das misslang gründlich. Insbesondere die jüngeren und kritischen Offiziere entfachten eine Diskussion, in dessen Klima, eine Gegendemonstration auf breiter Front abgewiesen wurde. Ich war selbst aktiv mit dabei. Einer unserer Mitstreiter trat dann bei dieser Demonstration sogar als Redner auf und unterstützte die Anliegen des Neuen Forums. Der Wind hatte sich auch im Ministerium gedreht.

Die Mauer ist weg

Der Wind hat sich gedrehtAber unmittelbar vor dieser Demonstration fiel bereits am 9. November, völlig überraschend die Mauer. Ich stand an diesem Abend, wie seinerzeit jeden Abend, in unserer neuen Wohnung und flieste gerade das Bad, eine der letzten Arbeiten vor dem Umzug. Tapezierarbeiten, neuer Bodenbelag, neue Sanitärkeramik waren schon erledigt, alles in 1 Mann-Arbeit nach Feierabend. Handwerker gab es im Sozialismus kaum und wenn, dann konnte man sie nur in harter D-Mark bezahlen, die ich nicht hatte. So lief an diesem Abend wie immer der RIAS, als er gegen 19:30 Uhr berichtete, dass Günter Schabowski im internationalen Pressezentrum bekannt gab, dass jeder DDR-Bürger über Grenzübergangsstellen ausreisen könne. Auf die Nachfrage eines Journalisten verkündete er dann ohne Abstimmung mit den Entscheidungsträgern, dass dies seiner Kenntnis nach sofort in Kraft trete.

Damit löste er das größte historische Ereignis der „Wendezeit“ aus. Nach 28 Jahren hatte der „Eiserne Vorhang“ nicht nur 1 Loch. Noch am gleichen Abend forderten viele Ost-Berliner die neue Reisefreiheit ein. Die Menschen drängten an die Grenzübergänge und belagerten diese solange, bis die völlig überforderten Grenzposten die Tore öffneten und sich die Euphorie bahnbrechen konnte. Ich habe die ganze Nacht am Radio gehangen und geheult, so haben mich meine Gefühle übermannt. Man kann es kaum beschreiben, was man damals alles fühlte. Es hatte sich soviel angestaut und brach sich nun Bahn. Die Menschen aus Ost und West lagen sich in den Armen, sie feierten und tanzten auf dem Kudamm, an der Siegessäule und in so ziemlich allen Straßen Westberlins. Das ist bis heute einmalig und an Emotionen wohl kaum zu überbieten. Zurückblickend war es wohl einer der glücklichsten Momente in meinem Leben.

Bin ich jetzt ein Feind des Sozialismus?In der darauffolgenden Woche sind wir umgezogen. Das Umzugsunternehmen packte auch meine mehrbändigen Ausgaben der Werke von Marx, Engels und Lenin ein. Schon das alleine war mir sichtlich peinlich. Die alten Ideale hatten ausgedient, kündeten sie doch von der Gesetzmäßigkeit des Sieges des Sozialismus, den jetzt niemand mehr wollte. Doch eine Bücherverbrennung wäre auch keine Lösung gewesen und so stehen die Werke noch heute in meinem Bücherregal, zur Mahnung vor einer verordneten Staatsideologie.

Am 20. November war unsere Familie, einschließlich meiner Schwiegereltern, dann zum ersten mal in West-Berlin. Auch das war nicht selbstverständlich, denn als Offizier ging man nicht zum Klassenfeind und erst recht nahm man kein Begrüßungsgeld an. Die alten Kader beäugten mich argwöhnisch und der eine oder andere wünschte mir sicherlich, dass dies Folgen für mich hätte. Das war mir völlig egal.

Bin ich jetzt ein Feind des Sozialismus?

Die Menschen drängten sich auch an jenem Tag diszipliniert an den wenigen Grenzübergängen nach West-Berlin. Nicht nur wir verloren uns dabei aus den Augen. Das wir uns kurze Zeit später dennoch wiederfanden, lag eher daran, dass alle ihr Begrüßungsgeld am Kudamm abholen wollten. Wir mussten nur die riesige Schlange abgehen, um uns wiederzufinden. Ich hielt die Idee, sich hier anzustellen für abwegig und machte den Vorschlag, auf ein Postamt in einen Außenbezirk zu fahren. Dort war es dann tatsächlich wesentlich übersichtlicher. Statt tausender Wartender trafen wir nur auf eine Handvoll Menschen, die die gleiche Idee hatten.

Aufbruch in die neue ZeitWir sahen nun zum ersten mal den „Westen“, eine völlig andere Welt, bunte Leuchtreklamen, Geschäfte voll mit Waren, und Obst aus aller Herren Länder. Hier konnte man Ananas, Weitrauben und Bananen an jeder Ecke kaufen. Unsere ersten 200 DM gaben wir für 2 Walkman, 2 ferngesteuerte Autos, 1 fertige Küchengardine, 1 Badeteppich vom Discounter Ullrich am Bahnhof Zoo und für frisches Obst aus.

Als ich dann ein paar Tage später auch noch aus der SED, der Staatspartei austrat, fragte mich mein Abteilungsleiter, Oberst Menzel: „Sind Sie jetzt mein Feind?“ Er verstand allen Ernstes nicht, dass ich nicht länger die Politik dieser Partei mittragen wollte. Zu dieser Zeit war noch keineswegs klar, dass es ein knappes Jahr später zur Wiedervereinigung kommen würde. Nicht einmal die Verhandlungen darüber, mit den Siegermächten, standen im Raum. Gerade erst war die Regierung der DDR zurückgetreten.

Aufbruch in die neue Zeit

Am 17. November wurde ein neues Kabinett unter Ministerpräsident Hans Modrow eingesetzt. Auch dieser Hoffnungsträger war ein alter SED Kader, allerdings mit pragmatischem Willen zur Veränderung. Es mussten nun die Grundlagen für die ersten freien Wahlen in der DDR geschaffen werden, die wichtigste Forderung der Opposition. Noch bestimmten überall alte SED-Kader den Lauf der Dinge. Aber mehr und mehr erkämpften die neuen politischen Kräfte um das „Neue Forum“ ihr Mitspracherecht. Genau einen Monat nach dem Machtwechsel tagte der Zentrale Runde Tisch zum ersten Mal.

Für mich fiel mit dem Eisernen Vorhang auch mein ganz persönlicher Vorhang. Die Ereignisse haben mir die Augen geöffnet und mir war klar, dass der Sozialismus für die Menschen keine Zukunft hat und die Gefühle der Deutschen nach der Einheit in einem Land nicht aufzuhalten waren. So wurde aus den Rufen „Wir sind das Volk“ schnell „Wir sind ein Volk“. Ich bin noch heute dankbar, dass ich das erleben durfte. Ich wusste in all dieser Zeit ganz genau, dass gerade Geschichte geschrieben wurde und ich Teil dieser war.

Freiheit und Demokratie sind für mich Errungenschaften, die täglich verteidigt werden müssen. Gerade heute habe ich den Eindruck, dass uns unsere Freiheit gerade unter den Füßen wegzubrechen droht. Die Polarisierung hat in der Gesellschaft erschreckende Ausmaße angenommen. Es gibt nur noch schwarz und weiß, links oder rechts, Klima-Aktivisten und Klima-Leugner, Gutmenschen und Flüchtlingshasser. Die Angst hat vielfach das Handeln übernommen, die Angst vor den Flüchtlingen, die Angst vor der Klimakatastrophe. Dabei war Angst schon immer ein schlechter Ratgeber. Die friedliche Revolution 1989 hatte auch deshalb Erfolg, weil die Menschen keine Angst hatten. Überlassen wir also nicht leichtfertig den Extremisten von rechts und links die Bühne, auch nicht denen, die sich als Klimaaktivisten tarnen. Bewahren wir uns unsere Freiheit und vertrauen wir auf die Stärke der Demokratie, damit unsere Enkel eines Tages nicht in einer Diktatur aufwachen müssen.


von Qpress



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