„Solidarität“? Schubumkehr des Sozialstaates gegen die normalen Leute

Grüne, SPD und Gewerkschaften demonstrieren gegen eine AfD Veranstaltung – foto: O24

Interview* mit Prof. Albrecht Goeschel

Herr Professor – Ihr Manuskript für die Winterausgabe der Vierteljahresschrift TUMULT haben wir gelesen. Sie attackieren darin den Sozialstaat, seine Sozialfinanzierung, das Soziale schlechthin als „giftige Frucht des Kapitalismus“. So jedenfalls haben Sie dies alles schon vor geraumer Zeit in TUMULT bezeichnet. Ist der Sozialstaat in jüngerer Zeit noch giftiger geworden?

Certamente – aber sicher. Denken Sie nur an die beiden in den zurückliegenden Monaten vom Linksmilieu hinausposaunten Aufrufe „Solidarität statt Heimat“ und „Solidarität statt Ausgrenzung“. Dabei geht es gar nicht in erster Linie um das nackte Unwissen, die versteckte Heuchelei und die peinliche Eitelkeit der Unterzeichner dieser Aufrufe. Nein, es geht um die dramatische Schubumkehr des Sozialen und des Sozialstaates gegen die normalen Leute,welche diese Aufrufe beinhalten und bewirken.

Das ist jetzt aber schon erläuterungsbedürftig!

In der Tat ist meine These von der Schubumkehr des Sozialen erläuterungsbedürftig. Fangen wir also an damit: „Solidarität“ war die Parole der Arbeiterklasse im Industriekapitalismus. Sie stand für den Kampf gegen den Hungerlohnarbeitsmarkt,gegen den Dreizehnstundentag, gegen das Mietskasernenleben. Mit der Errichtung der Sozialversicherungen durch Bismarck begann dann aber die Bürokratisierung dieses Begriffes. Kampfparole war er nur noch für den 1. Mai, Streiks und Wahlplakate. Im Alltagsbetrieb der Kranken-, Unfall- und Altersversicherungen war „Solidarität“ dage-gen die Funktionsregel für die Umverteilung der Lohn- bzw. Beitragsgelder zwischen den Versicherten gemäß Reichsversicherungsordnung.

Und wo bitte ist die Schubumkehr?

Con calma per favore – langsam bitte. Mit den Begriffen der Solidarität , des Sozia-len, des Sozialstaats war bis zum Hartz IV–Terror von Rot-Grün für die Leute immer auch noch die Vorstellung verbunden, hier ginge es um den Schutz der Gesellschaft vor den allerschlimmsten Kapitalismusexzessen. Mit der Flut bösartiger „Sozialreformen“, Stichworte: Gesundheitsreform, Pflegereform, Arbeitsmarktreform, Rentenreform etc. sind die Leute dann aber doch zunehmend skeptisch geworden. Sie haben sich aber gleichwohl weiterhin an die Illusion „Sozialstaat“ geklammert.

Aber das gesamte Establishment, von den neoliberalen Gutachten-Professoren über die konformen Wahrheitsmedien bis zum parlamentarischen Parteienkartell, hat doch den Sozialstaat seit Jahren als überteuert, nicht mehr zeitgemäß und umbaubedürftig verbellt. Hat das die Leute nicht aufgeschreckt?

Natürlich hat das irreführende Geschwätz vom Demographierisiko, jetzt komplettiert mit den Lügen von der Migrationschance, die Leute aufgeschreckt. Aber sie haben recht bald mehr geahnt als verstanden, dass die Kritik am Sozialstaat „von oben“ nur dazu gedient hat und dient, ihnen auch noch die wenigen Vorteile, die sie für ihre steigenden Beiträge, Gebühren und Steuern vom Sozialen haben, zu enteignen – auf die sie doch zwingend angewiesen sind. Aber leider: Niemand hat den Leuten plausibel und seriös erzählt, wie und warum sie im kapitalistischen Sozialstaat ihre Ausbeutung auch noch selber bezahlen müssen. In TUMULT, Herbst 2016, kann man dazu nachlesen.

Was ist mit den Gewerkschaften, der Linkspartei und der Alternative-Partei?

Danke dass Sie mich nicht nach den Grünen und den Sozis gefragt haben. Die haben ja erst den übelsten Neoliberalismus eingeführt. Und die Gewerkschaften? Die spielen seit Jahrzehnten bei der neoliberalen „Lohnzurückhaltung“ zum Zwecke vermeintlicher Exportförderung mit und meinen, sie seien darauf angewie- sen, dass alles bleibt wie es ist, damit ihnen nicht noch mehr Mitglieder davon- laufen.

Für die Linkspartei ist dieser kapitalistische Sozialstaat eine „Heilige Kuh“ und zugleich ein politisches und professionelles Geschäftsmodell: Einerseits ist die poli- tisch-ökonomische Analyse des Linksmilieus überwiegend moralisierend-reformi-stisches Gefasel, in dessen Zentrum die Rettung des einstmaligen Sozialstaates als Dogma steht. Andererseits bietet dieses gerne mit „Armut“ und „Flüchtlingen“ ver-quirlte Gesinnungsgebräu eine schöne Berufsideologie für das, womit das Links- milieu sein sicheres Geld verdient: Wenn nicht mit Politik oder Zivilgesellschaft, dann mit irgend etwas Akademisch-bildungsnahem, Gesundheit, Medien etc.

Und die Alternative-Partei ? Die ist aus einem neoliberalen Professoren-Haufen entstanden. Daran leiden ihr Programm und Personal immer noch. Erst allmählich dämmert es, dass der von ihr in den Mittelpunkt gestellte Migrationsputsch Merkels vor allem auch eine brutale Sozialaggression gegen die normalen Leute und nicht nur eine kulturelle Demontage Deutschlands ist. Es gibt im Rentenbereich ein paar ganz interessante Ansätze – aber das ist alles noch ohne konsistente Analyse und Konzeption.

Sie haben jetzt zwar gezeigt,wie es mit dem „Sozialen“ auch in den Hirnen und Her- zen der Leute vor allem seit der verlogenen Politik von Rot-Grün abwärts gegangen ist – aber die von Ihnen apostrophierte „Schubumkehr“ sehen wir noch nicht.

Dafür, dass diese Schubumkehr des Sozialstaates gegen die Leute sichtbar und er- kennbar geworden ist, hat es tatsächlich den Migrationsputsch des Merkel-Regimes gegen die Rechtsordnung in Deutschland gebraucht. Zunächst aber haben die Leute in der Mehrzahl dabei nur ihre plötzliche Verdrängung in den Arztpraxen und Krankenhausnotaufnahmen, in den Jobcentern, in den Grundschulen, bei der Wohnungs- suche und selbst bei den „Tafeln“ bemerkt. Zunächst haben sie „nur“ befürchtet, dass der wundervolle Sozialstaat jetzt mehr für die „Anderen“ als für die „Eigenen“ und sie selbst zur Verfügung stellt.

Seit der Kölner Sex-Party, dem Berliner Lkw-Massenmord, den sich häufenden „Einzelfällen“ von Asylmorden und dann vor allem nach dem Chemnitz-Skandal, bei dem das Berliner Regime den Eindruck hat entstehen lassen, eigentlich sei der Ermordete der Täter, haben die Leute gemerkt: „Holla, das wird ja nicht nur schwieriger, das geht ja überhaupt gegen uns“.

Den Rest, dass die Leute jetzt sehen, dass dieser kapitalistische Sozialstaat ihr Feind geworden ist, hat das „Unteilbar“- Massenevent vom 13. Oktober 2018 in Berlin mit seinem Motto „Solidarität statt Ausgrenzung“ erledigt.Jetzt ist klar: „Solidarität“ ist nicht mehr die Parole der Leute gegen die Auswüchse des Kapitalismus. „Solidarität“ ist vielmehr der Sprechchor des Gutmenschen-Mob zur Durchsetzung der neoliberalen Weltordnung.

Die Ergebnisse der Landtagswahl in Bayern waren für Sozialdemokratie, Grüne und Linke nun die schallende Antwort und für die Christlichen Sozialen ebenso.

Das haben wir jetzt begriffen: Der kapitalistische Sozialstaat hat seinen Charakter gewechselt. Er ist nicht mehr nur das Instrument der Selbstausbeutung der Leute, er ist jetzt vor allem das Instrument zur Zerstörung der Lebenswelten der Leute. Was tun?

An allererster Stelle steht die Notwendigkeit, die „Sozialstaatsillusion“ mit gründlichen historischen, politischen, ökonomischen etc. Analysen zu zerstören. In den zurückliegenden Jahrzehnten wurden ganze Bibliotheken voller Rechtfertigungs- und Ausschmückungsliteratur, aber auch Klageliedern und Trauermärschen für die „Heilige Kuh“ zusammengeschrieben. Es gibt aber auch einige fundamentalkritische Autorinnen und Autoren, die zeigen, dass der kapitalistische Sozialstaat vor allem die Aufgabe hat, immer wieder für eine „Klassengesellschaft der billigen Arbeit“ zu sorgen: Durch Hartz IV, Altersarmut, Massenzuwanderung einerseits, Bildungsterror, Bacheloridiotie andererseits.

In Ihrem Beitrag für die Winterfolge von TUMULT geben Sie einen historischen Überblick darüber, wie durch die gesonderte Sozialversicherung der so genannten Lebensrisiken Krankheit, Unfall, Alter, Arbeitslosigkeit etc. die Gesellschaft mittels einer immer weiter vordringende Sozialfinanzierung für die Bedürfnisse der Wirtschaft zugerichtet worden ist.

Am Ende des Ersten Weltkrieges, nach dem Matrosenaufstand, dem Waffenstillstand und der Kaiserabdankung, hat wegen der enormen Kriegsanstrengungen,der Gebiets-, Kolonien- und Exportmarktverluste des Deutschen Reiches, des Reparationsterros, der Nachkriegsinflation etc. die dringende Notwendigkeit eines umfas- senden Rekonstruktionsprogrammes mit Bodenreform, Außenhandelsregime, Bankenkontrolle, Branchenplänen und Arbeitsmarktregulierung bestanden.

Der sozialdemokratisch dominierte Rat der Volksbeauftragten beschränkte sich aber auf harmlose „Sozialpolitik im luftleeren Raum“, wie der exzellente Historiker Arthur Rosenberg spottet: Man führte den Achtstundentag ein und ließ ansonsten alles beim Alten. In der kriegs- und reparationsbedingten Hyperinflation der Folgejahre wurde diese zwar ehrenwerte, aber politisch naive sozialpolitische Wohltat der So- zialdemokratie wieder einkassiert. Die historische Schuld der Sozialdemokratie in diesen Jahren war, dass sie die Trennung und das Gegeneinander von Arbeit und Kapital mit ihrer Schrebergartenpolitik als Trennung von Sozial- und Wirtschaftspolitik verfestigt hat.

Nachdem Mitte der 1920er Jahre Europa und vor allem Deutschland als Anlagesphäre für die enormen Kriegsgewinne der Vereinigten Staaten entdeckt worden waren, kam es in Deutschland zu einem regelrechten Kreditboom. In dieser Situation war es möglich,auch mit Zustimmung der Wirtschaft wieder mehr „Sozialpolitik“ zu betreiben. Als vierter Zweig der Sozialversicherung wurde eine Arbeitslosenversicherung einge- richtet. Die dringend nötige Steuerung der Kreditverwendung und eine entsprechende Steuerabsicherung der Kreditbedienung wurden natürlich versäumt.

Die kurz darauf ausbrechende Weltwirtschafts- und Kreditkrise traf die deutsche Wirtschaft auch deshalb besonders hart, weil die berüchtigte Regierung Brüning und ihre Nachfolgeregierungen die Nutzbarkeit der Sozialversicherungen als Krisenpuffer nicht erkannt hatten und durch rabiate Sozialkürzungen die Krise verschärften. Die eigentliche Verantwortung für diese aus heutiger Sicht idiotische Sparpolitik der Regierung Brüning lag aber bei der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften, die mit ihrer ausschließlichen Sozialpolitik in den Jahren davor keine Konzepte, Programme und Instrumente für eine umfassende Wirtschaftspolitik präpariert hatten.

Ja, und dann passierte, was ein Dauerthema der historisch-politischen Diskussion ist: Die jämmerliche Zukunftsfeigheit der Sozialdemokratie, die jahrzehntelang nichts besseres wusste, als die deutsche Arbeiterklasse seit Bismarck in ihr Spießbürgerghetto „Sozialpolitik“ einzupferchen, bekam in den Wahlen der 1930er Jahre die Quittung: Die nichtsozialdemokratischen Teile der Arbeiterklasse, die von den Sozialdemokraten stets ignorierten Bauern, der alte und der neue Mittelstand mandatierten die Nationalsozialisten ausreichend, um die Weimarer Republik zu übernehmen.

In unserem Zusammenhang ist dabei nur wichtig: Zwar servierten die Nazis die So-ozialdemokraten und Gewerkschaften als politische Organisationen der Arbeiterklasse ab und verboten den „Klassenkampf“ als politisch-ökonomische Idee – faktisch aber entwickelte sich im Nationalsozialismus mit der „Deutschen Arbeitsfront“, der mitglieder- und wirtschaftsstärksten Massenorganisation des Dritten Reiches, ein für die Privatwirtschaft und auch die Staatsbürokratie unüberwindbarer Gegenspieler. Diese Organisation repräsentierte die Arbeiterklasse durch eine politisch-ökonomische Durchdringung beinahe aller ihrer Lebensbereiche. Dies reichte von der Frei- zeit- und Urlaubsorganisation „Kraft durch Freude“ bis zum Wolfsburger „Volks- wagenwerk“ der Arbeitsfront.

Dabei lag die eigentliche politische, ökonomische und soziale Macht der Deutschen Arbeitsfront darin, dass durch die rasante Aufrüstung zwischen 1933 und 1939 ein enormer Industriearbeitermangel entstand. Primitive Ausbeutungs- und Unterdrükkungskonzepte seitens Industriekapital und Rüstungsbürokratie waren bei dieser La- ge nicht machbar. Es gibt zu dieser sozusagen „dialektischen“ Ausformung des alten Klassenkonfliktes in einer neuen Harmonisierung von Ökonomie und Sozialem, von Wirtschafts- und Sozialpolitik während des Dritten Reiche eine exzellente Studie von Timothy W. Mason aus dem Jahr 1978 mit dem Titel „Sozialpolitik im Dritten Reich“.

Dieses Beispiel einer Integration von Ökonomie und Sozialem musste nach Kriegs- ende nach den Vorstellungen der aus ihren Nischen wieder aufgetauchten Konserva-
tiven, des Großkapitals und der Westalliierten schnellstens beseitigt werden. Daher wurden die teilweise von ihren Belegschaften besetzten Ruhrkonzerne mit alliierter Militärgewalt wieder geräumt und später die Erhardsche Politikshow „Soziale Marktwirtschaft“ aufgeführt – und schon waren Wirtschafts- und Sozialpolitik wieder fein säuberlich getrennt. Das ganze Sozialtheater ging von vorne los und jetzt macht der Sozialstaat Front gegen die normalen Leute.

Herr Professor – Sie haben ja bereits mehrfach in Interviews und Publikationen die Auffassung vertreten,das Berliner Regime und die Brüsseler Bürokratie würden seit geraumer Zeit schon die Sozialpolitik als Instrument ihres Spar- und Zerstörungsdiktates gegen den europäischen Süden benutzen. Auf europäischer Ebene sei die Schubumkehr des Sozialstaates gegen die Leute, die jetzt in Deutschland erkannt wird, schon seit Jahren Realität.

Sag’ ich doch !

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Das Interview führte eine Autorengemeinschaft der Accademia ed Istituto per la Ricerca Sociale Verona. Der vollständige Interviewtext liegt in der Verantwortung von Prof. Albrecht Goeschel i.S.d. Pressegesetzes.



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