Von Reynke de Vos
Seit der in mehreren Auflagen erschienenen grundlegenden Buchpublikation „Die Volksgruppen in Europa“, wofür drei namhafte Experten des in Bozen beheimateten Südtiroler Volksgruppen-Instituts verantwortlich zeichnen, wissen alle, die es wissen wollen, dass zwischen Atlantik und Ural 768 Millionen Menschen in 47 Staaten leben, wovon 107 Millionen – mithin jeder siebte Bewohner Europas – Angehörige von Minderheiten sind. Bei diesen Minoritäten handelt es sich nicht um soziologisch untersuchte „moderne“ Erscheinungen wie Angehörige gesellschaftlicher oder sexueller Randgruppen, welche heutzutage aufgrund angenommener oder tatsächlich vorhandener Diversitätsmerkmale die politisch-publizistische Mainstream-Aufmerksamkeit genießen. Es handelt sich auch nicht um Minderheiten, die aufgrund von Anwerbung („Gastarbeiter“) oder Migration in ihre Wohnsitzländer gekommen sind und dort auf politische Anerkennung und rechtliche Fixierung eines beanspruchten (und oft nicht von allen ihrer Landsleute geteilten) Minderheitenstatus aus sind. Nein, vielmehr handelt es sich um autochthone, historisch verwurzelte ethnische sowie sprachkulturell und/oder religiös von ihren eigentlichen nationalen Gemeinschaften getrennte und damit in fremdnationaler Umgebung, sohin unter den dortigen Staatsnationen, zu leben gezwungenen Minderheiten, die oft auch als Volksgruppen bezeichnet werden.
Europa ist überaus reich an Völkern, Volksgruppen, Kulturen und Sprachen; sie sind sozusagen konstitutives Element des Kontinents. Dies gilt zuvorderst auch für die 27 (Noch-)Mitgliedstaaten von EUropa, in denen sich seit langem und immer wieder Minoritäten zu Wort melden, die nicht nur sprachlich-kulturelle und religiöse Eigenheiten, sondern ihre gesamte gesellschaftlich-rechtliche Existenz durch Maßnahmen ihrer „Wirtsnationen“ bedroht sehen, welche auf Akkulturation, Assimilation und in letzter Konsequenz auf Entnationalisierung respektive Homogenisierung ausgerichtet sind. Zur Sicherung ihrer Existenz und zur Erhaltung ihrer (Eigen-)Art, somit ihrer nationalkulturellen/nationalreligiösen Identität, bedürfte es einer Ergänzung der in Menschenrechtscharta sowie Verfassungen
verbürgten Gleichberechtigung der Individuen durch das „Prinzip der Gleichberechtigung von Völkern und Ethnien“. Wenngleich damals rigorose Vertreter aufwallenden Nationalismus larmoyant vom „Völkerkerker“ schwadronierten, kannte just das alte Österreich-Ungarn dieses Prinzip und verfuhr danach.
Fehlender Volksgruppenschutz
Für die heutigen Verhältnisse in EU-Staaten mit immer wieder auftretenden Nationalitätenkonflikten – ich nenne hier stellvertretend für viele andere nur Basken/Katalanen in Spanien bzw. Flamen/Wallonen in Belgien – wären Instrumente zur Verwirklichung gleichberechtigter „nationaler Partnerschaften“ aus Mehrheit(sstaatsvolk) und nationaler/nationalen Minderheit/en nicht nur geeignet, sondern geradezu eine Art „Befreiungsschlag“. Notwendig wären in der EU übernational geltende, kollektive Volksgruppen(schutz)rechte, mithin Rechtsinstrumentarien für autochthone Minderheiten, und das Zugestehen von (Territorial-, Kultur- bzw. Personal- und/oder Lokal-)Autonomie, gebunden an statutarisch geregelte Formen von Selbstverwaltung.
Nichts dergleichen ist in zentralstaatlich organisierten und regierten Staaten EUropas auch nur ansatzweise denkbar. Wenn beispielsweise die ethnischen Ungarn in Siebenbürgen/Rumänien Autonomie etwa nach Maßstäben der Selbstverwaltung verlangen, wie sie die Südtiroler (nach erbitterten Kämpfen mit dem römischen Zentralstaat) in Gestalt einer Autonomen Provinz errangen, so werden sie von allen nationalrumänischen Kräften des Landes, ganz gleich, ob sie in Bukarest regieren oder opponieren, des Separatismus und des Revisionismus bezichtigt. Von Beginn an, also seit den Römischen Verträgen von 1957, hat sich das supranationale Gebilde, das heute unter „Europäische Union“ (EU) firmiert, nicht um Minderheiten-Fragen gekümmert, sondern sie – bequemerweise – zum Objekt institutioneller Zuständigkeit des Europarats erklärt und damit kurzerhand ignoriert.
Zentralstaatliche Bremser, linke Utopisten
Das kam/kommt nicht von ungefähr. Nachgerade am Verhalten einiger westeuropäischer Regierungen gegenüber den Selbständigkeitsbestrebungen der Slowenen und Kroaten, aber auch der Esten, Letten und Litauer (vor der völkerrechtlichen Anerkennung ihrer staatlichen Gemeinwesen, ja mitunter auch noch danach) war im Gefolge von Umbruch und Zeitenwende 1989/90 augenfällig geworden, dass die Furcht vor Separatismus im eigenen Lande das Handeln bestimmte. Dies rührte von der sich nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst verbreitenden Zuversicht her, wonach im Zuge der Europäisierung die Nationalstaaten allmählich verschwänden und somit die „nationale Frage“ gleichsam als Erscheinung des 19. Jahrhunderts überwunden würde. Vor allem Linke, Liberale und Grüne, mitunter auch Christdemokraten in West- und Mitteleuropa leisteten mit der theoretisch-ideologischen Fixierung auf die Projektion der „multikulturellen Gesellschaft“ einer geradezu selbstbetrügerischen Blickverengung Vorschub, indem sie vorgaben, mit deren Etablierung sei die infolge zweier Weltkriege entgegen dem Selbstbestimmungsrecht erfolgte Grenzziehung quasi automatisch aufgehoben. Dabei hatte just die machtpolitische Ignoranz historisch-kulturräumlicher Bindung, ethnischer Zusammengehörigkeit sowie der gewachsenen Sprachgrenzen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg zu spezifischen Minderheitensituationen geführt, deren Konfliktpotential bis in unsere Tage fortwirkt.
Frankreich gilt geradezu als Inkarnation des nationalstaatlichen Zentralismus. Weshalb viele der 370 .000 Bretonen mit Sympathie die nach dem Brexit wieder vernehmlicher werdenden Töne der schottischen Unabhängigkeitsbewegung verfolgen, welche im Referendum 2014 nur knapp gescheitert war. Ähnliches gilt für die 150 .000 Korsen.
Unabhängigkeitsverlangen
In Spanien bekunden besonders die gut 8 Millionen Katalanen (in Katalonien, Valencia und Andorra) sowie 676 .000 Basken (im Baskenland und in Navarra) immer wieder machtvoll ihren Willen, die Eigenstaatlichkeit zu erlangen. Davon wäre naturgemäß auch Frankreich betroffen, denn jenseits der Pyrenäen, im Pays Basque, bekennen sich gut 55 .000 Menschen zum baskischen Volk. Der 2015 von der baskischen Regionalregierung verabschiedete Plan „Euskadi Nación Europea“ enthält das Recht auf Selbstbestimmung und sieht ein bindendes Referendum vor.
In Belgien hat sich der (nicht nur sprachliche) Konflikt zwischen niederländischsprachigen Flamen und französischsprachigen Wallonen seit den 1990er Jahren zu einer latenten institutionellen Krise ausgewachsen. Von den 5,8 Millionen Flamen (52,7 Prozent der Bevölkerung), die sich ökonomisch gegen die Alimentierung der „ärmeren“ Wallonie (3,9 Millionen Wallonen; 35,8 Prozent der Bevölkerung) wenden und zusehends für die Eigenstaatlichkeit eintreten, sprechen sich die wenigsten für den Erhalt des belgischen Zentralstaats aus. (Die Deutschsprachige Gemeinschaft, ein von 87.000 Menschen (0,8 Prozent der Bevölkerung Belgiens) bewohntes Gebilde mit autonomer politischer Selbstverwaltung, eigenem Parlament und eigener Regierung, entstanden auf dem nach Ende des Ersten Weltkriegs abzutretenden Gebiet Eupen-Malmedy, gehört zwar formell zur Wallonie, hält sich aber aus dem flämisch-wallonischen Konflikt weitgehend heraus.)
Außerhalb Italiens werden die Unabhängigkeitsverlangen im Norden des Landes meist unterschätzt und weitgehend ausgeblendet. Die politische Klasse in Rom muss hingegen angesichts regionaler Erosionserscheinungen befürchten, dass Bestrebungen, sich von Italien zu lösen, an Boden gewinnen. So beteiligten sich im Veneto 2,36 Millionen Wahlberechtigte (63,2 Prozent der regionalen Wählerschaft) an einem Online-Referendum zum Thema Unabhängigkeit Venetiens, von denen 89,1 Prozent –- das waren immerhin 56,6 Prozent aller Wahlberechtigten –- auf die Frage „Willst Du, dass die Region Veneto eine unabhängige und souveräne Republik wird?“, mit einem klaren „Ja“ antworteten. In der lombardisch-„padanischen“ Nachbarschaft zündelt die Lega immer wieder mit Unabhängigkeitsverlangen und strebt ein aus der Lombardei, Piemont und Venetien zu bildendes Unabhängigkeitsbündnis an, das derzeit „pausiert“, weil die Führungsgestalt Matteo Salvini aufgrund politischer Fehleinschätzung seiner „gesamtnationalen Zugkraft“ politisch ins Hintertreffen geraten ist.
Die EU hat – via Entwicklungsschritte EWG und EG – also keine wirklich substantiellen Volksgruppen-Schutzmaßnahmen ergriffen, weil zentralistisch organisierte Nationalstaaten wie Frankreich, Italien, Spanien, Rumänien, um nur die ärgsten Bremser zu nennen, deren Begehr prinzipiell ablehnend gegenüberstehen. Besonders hinsichtlich Rumäniens ist beispielsweise darauf zu verweisen, dass das Verlangen der ungefähr 1,4 Millionen ethnischen Ungarn – und insbesondere der rund 700 .000 Székler – nach Autonomie von der gesamten politischen Klasse des Staatsvolks sofort als Sezessionsbegehr und „Revision von Trianon“ gebrandmarkt wird. (Gemäß dortigem Friedensdiktat hatte Ungarn 1920 zwei Drittel seines Territoriums verloren.) Frankreich (am 7. Mai 1999) und Italien (am 27. Juni 2000) haben zwar die 1992 vom Europarat verabschiedete und – bezogen auf die realen Auswirkungen für die jeweiligen Staatsnationen – relativ „harmlos“ bleibende „Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen“ unterzeichnet; ratifiziert und in Kraft gesetzt wurde sie bis zur Stunde von beiden Staaten nicht.
Solange das Manko aufrecht ist, dass die „kleinen Völker“ respektive „kleinen Nationen“ ( als die sich nationale Minoritäten/Volksgruppen gerne nennen, weil sie sich als solche verstehen), in jenen Staaten, in denen sie daheim sind, der kollektiven Schutzrechte entbehren, so lange werden sie für diese ein nicht zu unterschätzender Unruhefaktor sein. Enttäuscht sind sie von der EU, von der sie sich in gewisser Weise „Erlösung“ erhoff(t)en. Denn abgesehen von dem den Volksgruppen vom Europäischen Parlament 1991 deklaratorisch zugestandenen „Recht auf demokratische Selbstverwaltung“, womit „kommunale und regionale Selbstverwaltung beziehungsweise Selbstverwaltung einzelner Gruppen“ zu verstehen ist, und abgesehen vom 2007 unterzeichneten Vertrag von Lissabon, mithilfe dessen erstmals die „Rechte der Angehörigen von Minderheiten“ (als Teil der Menschenrechte) als Artikel 2 EUV in den sogenannten „EU-Wertekanon“ aufgenommen worden sind, hat sich just das supranationale Gebilde EU als solches den im Zentrum der Bedürfnisse aller nationalen Minderheiten stehenden überindividuellen, also kollektiv einklagbaren Schutzrechten weithin entzogen.
„Erhaltung regionaler Kulturen“
Alldem soll nun eine „Europäische Bürgerinitiative“ abhelfen. Sie ging ursprünglich von den in Siebenbürgen beheimateten Széklern, einem alteingesessenen magyarischen Volksstamm, aus, und hat als „Initiative zur Erhaltung der regionalen Kulturen“ bislang mehr als 1,2 Millionen zustimmende Unterschriften gesammelt. Zunächst wollte die EU-Kommission diese Initiative nicht nur abwürgen, sondern gar nicht erst zulassen. Unterstützt von der Regierung Orbán verklagten die Organisatoren die Kommission vor dem Europäischen Gerichtshof und erhielten recht, woraufhin Brüssel genötigt war, die Angelegenheit zu genehmigen.
Die Organisatoren hoffen, bis zum Fristablauf ihres politischen Unterfangens (7. November 2020) zwei Millionen Unterschriften bzw. über diesen Internet-Link zu erlangende Zustimmungserklärungen aus insgesamt mindestens sieben EU-Mitgliedstaaten vorlegen zu können. Vorerst fehlt noch in vier von sieben Ländern die erforderliche Mindestanzahl von Unterschriften, wohingegen in Ungarn, in Rumänien sowie in der Slowakei schon weit mehr als die jeweiligen Quoren erreicht sind. Die Initiatoren setzen daher nunmehr vornehmlich ihre Hoffnungen auf weitere Zustimmung aus Irland, Schweden, Dänemark, Deutschland, Österreich und Italien, wo nicht zuletzt aus Südtirol viel Sympathie zu erwarten sein dürfte.