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Pessimismus und Dekadenz kommen in Schüben

„Ist Billie Eilish dran schuld oder die Krisen dieser Welt? Die Generation Z liebt es, auf Social Media Tristesse zu zelebrieren. Neu ist das Phänomen nicht. Stehen wir vor einem Grunge- und Emo-Revival?“ Die „WELT“ steht vor einem Rätsel. Man vermutet, daß es buchstäblich profitabel sei, ein Trauma herauszukehren oder eine Art Verwundbarkeit zu zeigen.

Solche pessimistischen Schübe sind in der Gesellschaft nicht neu, sie sind auch kein deutsches Phänomen, auch wenn man es in Deutschland, Frankreich, Rußland und Österreich freilich auf die Spitze trieb. Besonders unter dem Einfluß von Arthur Schopenhauer (1788 bis 1860) entfaltete sich am Ende des 19. Jahrhunderts die literarisch-philosophische Dekadenz.

„Die lebensmüde, oft lebensfeindliche Untergangsstimmung, die Faszination durch den Verfall in allen Formen, führten zur Vorliebe für Krankheiten, krankhafte Zustände sowie für den Tod. Die charakteristischen Figuren der dekadenten Literatur zeichnen sich denn auch durch eine geschwächte Vitalität aus…Sensibilität wurde kultiviert, Nerven, Nervosität und Hysterie wurden Schlüsselwörter. Normalität und Natur lehnte man in diesen Kreisen als banal und uninteressant ab.“ So nachzulesen bei Bengt Algot Sörensen in der „Geschichte der deutschen Literatur“.

Spielwiesen der nervenkranken Welt waren die Praxen der Psychiatrie, der Hypnose, der Suggestion, der Triebpsychologie und zuletzt der Psychoanalyse als Königsdisziplin der reformistischen Traumdeutung. Die Zeit war um 1900 reif, die oscura parte della anima zu durchforsten.

Unter der dünnen Kruste der Zivilisation wurden insbesondere allhier in Deutschland unterirdische Mächte der Natur vermutet; die bereits erwähnten germanischen Götter und Naturidole waren aus Walhall und dem deutschen Wald in den dunklen Sumpf des Vergessens abgesäuft worden, von wo sie wieder hervordrangen; Mondvölker entfalteten finsteren Zauber, unterwühlten und untergruben den Erfolg der germanischen Rasse; der nationalsoziale Friedrich Naumannn fand 1908 im

„dunklen Hintergrund der Seelen einen Raum, der gar nicht elektrisch beleuchtet werden will, der sich gar nicht regeln lassen will, den Raum der verlorenen Leidenschaften und Urgefühle. Aus diesem Raum steigen Seufzer, Gelächter, Heulen und Gekicher, wortlose und gedankenlose Laute verworrenster Art auf, ein Chor der gewesenen Jahrtausende drunten in der Nacht der Einzelseele. Diesen Untergrund hat keine Aufklärungskanalisierung trockenlegen können…“

Fidus: Eindringling ins Seelenland. Das Bild enstand kurz vor der Veröffentlichung von Sigmund Freuds „Traumdeutung“ und Ellen Keys „Jahrhundert des Kindes“

Der Riß zwischen krankhafter Dekadenz und dem Leitbild des gesunden Partei- bzw. Volksgenossen ging mitten durch manche Schriftsteller- und Malerexistenzen: Thomas Mann schilderte minutiös den Verfall einer Kaufmannsfamilie, und sehnte sich in „Tonio Kröger“ doch nach den Wonnen der Gewöhnlichkeit. Ganze Künstlerscharen von Malern, Dichtern, Schriftstellern und Publizisten schworen dem Stadtleben ab und drängten in die ländlichen Künstlerkolonien nach Murnau, Friedrichshagen und Worpswede, um sich den Wonnen des Landlebens auszusetzen und an der Kraft des bäuerlichen Blutes und Bodens zu schmarotzen. In dieser Zeit entstanden erste Verquickungen von Reformismus und Heimatkunst. Die Franzosen nannten diese Zeit die „große Epoche des Regionalismus“. In den zwanziger Jahren wurde der Heimatstil populärer und in den Dreißigern hingen seine Gemälde auf Ausstellungen in der oberen Reihe, für seine literarischen Romanzen wurden die Walzen der Druckmaschinen nicht müde umzulaufen.

Der Ästetizismus blickte ab 1890 in den Spiegel des Nietzscheanismus und vermeinte sich im Übermenschen wiederzuerkennen. 1892 bekannte sich Stefan George in seinen „Blättern für die Kunst“ zur „kunst für die kunst“ mit einem Primat für die Schönheit. Sörensen schreibt dazu:

„Dekadenz und Ästhetizismus verbanden sich mühelos miteinander. Der Typus des Ästheten, der das eigene Leben und die Umwelt nicht mit moralischen Kategorien von Gut und Böse, sondern mit den ästhetischen Begriffen von Schön und Häßlich bemisst, gehört zusammen mit dem Dandy und dem Dilettanten zu den Lieblingsfiguren der damaligen Literatur.“

Viele Ästhetizisten und Dekadente werden der präfaschistischen Bewegung zugeordnet, insbesondere George und sein Kreis, der junge Thomas Mann und der junge Heinrich Mann, der es 1894 fertigbrachte, zwei Dekadenzromane: „Das Wunderbare“, in der die Schönheit des Verfalls beschrieben wurde, und „Contessina“ zu schreiben und gleichzeitig bei der antisemitischen Zeitung „Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt“ mitzuarbeiten.

Damals wie heute war bzw. ist natürlich nur der auf den Treppchen des Wohlstands und der Ein-Bildung stehender Teil der Jugend von den Taranteln des Fortschritts gestochen. Daß viele junge Leute normal bleiben, ist der WELT entgangen. Eine „Generation Z“ ist ein Kunstbegriff der Vereinnahmung und des „Framings“, wie man heute sagt. Ein „Wording“. Hmm.

Der Verfall wäre gesellschaftspolitisch nie so interessant gewesen, wenn mit der Dekadenz nicht die Angst vor ihr ins Uferlose gewachsen wäre: Viele gesellschaftliche Prozesse wurden als Dekadenzvorgänge angesehen, der Untergang Roms ebenso wie der Kapitalismus. Bereits 1892 schrieb Max Nordau in „Entartung“ „wir stehen mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer schwarzen Pest von Entartung und Hysterie.“

Auslöser waren am Ende des 19. Jahrhunderts nicht die Krisen der Welt, sondern eine um sich greifende Wohlstandsverwahrlosung, die Resultat eines sehr zügigen Gesellschaftsumbaus war. Die rasante Verstädterung und Industrialisierung kollidierte mit Traditionen und Gewohnheiten, es enstand – auf den ersten Blick verwunderlich – ein den Konventionen geschuldeter Verwendungsstau für den überschießenden jugendlichen Elan. Mit dem WK I fand der heiße Gefühlskessel sein Ventil, danach in Begeisterung für die Oktoberrevolution und den Führer. Die ganz Unentwegten huldigten dann noch Väterchen Stalin. Und nun sind wir in der nächsten Welle.

Grüße an den Inlandsgeheimdienst: „Ich will, dass ihr in Panik geratet. Ich will, dass ihr die Angst spürt, die ich jeden Tag spüre.“ (Greta)

Quelle: Prabelsblog



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