Das Märchen vom russischen Öl und Gas

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Es war einmal. Vor langer, langer Zeit lebte ein Mann, der aus dem Morgenland kam, in einem verrückten Städtchen namens Berlin. Die einstigen Stadtmauern und die Tore waren längst abgerissen, bunte Fahnen flatterten von den Fachwerkhäuschen und ein jeder müde Wandersmann aus aller Welt fand Einlass. Die Bewohner schwelgten im Reichtum und überhäuften jeden Neubürger mit Geschenken, güldenen Dukaten und Teddybären. Diese frohe Kunde verbreitete sich bis in die entferntesten Ecken der Erde. 

Und so klopfte auch der Mann aus dem östlichen Land, in dem die Sonne früher aufgeht, an die Pforten des städtischen Schatzmeisters. Ihm wurde eine kleine Rente gewährt, da man bereits sein bloßes Kommen als kulturelle Bereicherung der sonstigen Eintönigkeit empfand. Indes, die milden Gaben der Bürger genügten ihm nicht, war er doch zu Hause der Fürst eines hundertköpfigen Stammes. So sann er darob nach, sich eine Tätigkeit zu suchen, doch nicht etwa Schuster oder Schneider sollten es sein. Fliegender Händler, das war das Mindeste, das seine neue Karriere krönen sollte.

Und so begab es sich, dass er fortan mit besonderes begehrten Kolonialwaren einen auskömmlichen Handel trieb. Er schlug sein von jeglicher Gewerbeanmeldung befreites Zelt dort auf, wo die Bewohner des beschaulichen Städtchens des Sonntags zu spazieren pflegten. Dieses einst selige Fleckchen Erde wird heute Görlitzer Park genannt und erlangte weltweite Bekanntheit.

Heute noch werden dort kostbare Kolonialwaren, halb geduldet, halb nicht, feilgeboten. Getrocknete Gräser aus Marokko, abgepackt zu je zehn Gramm, zur Herbeiführung von Bewusstseinstrübungen geeignet. Desgleichen Wodka aus Moskau, Dorsch- und Borschtsuppe in Dosen aus Wladiwostok, Russisches Brot aus St. Petersburg und Öllämpchen aus Sibirien. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich just seine Öllämpchen, deretwegen seine Kundschaft aus nah und fern angeritten kam. Mehr als alle anderen Waren, die er feilbot, galt das Interesse diesem Zauberöl. Damit ließ sich kochen, das Zimmer erhellen und sich auch noch wärmen.

Es trug sich jedoch zu, dass seinem Fürsten, in dessen Gemarkungen er sein Zelt aufgeschlagen hatte, eine hässliche Kunde zugetragen worden ward. Der Fürst des Landes, aus dem Wodka, Dorsch, Borscht, Russisch Brot und eben dieses begehrte Öl kamen, habe einen Krieg begonnen, der alle Welt in Aufruhr versetzte. Der Fürst des Ostens galt nämlich als grausamer Krieger, der andere Völker unterjochte und selbst Frauen und Kinder ermorden ließ, um sein Reich zu vergrößern. Auch das Volk der Berliner geriet über den Kolonialwarenlieferanten in Aufruhr wie Unmut, sehr sogar.

Man solle ihn bestrafen und alsbald schallte ein vielstimmiges „boykottiert ihn“ durch Gassen und Straßen. Ein von jeglichem Zweck befreites steinernes Tor, inmitten des ruhigen Städtchens errichtet, geriet zum Auflaufgebiet aller Stände. Und so ließ der Fürst des langweiligen Städtchens durch berittene Herolde mit Pauken und Trompeten seinen weisen Beschluss verkünden. Die aus dem Osten kommenden Kolonialwaren, die da waren Wodka, Dorsch, Borscht und Russisch Brot dürften nicht mehr feilgeboten. Übereifrige und mit heiliger Einfalt gesegnete Bürger, die sich bislang an Büchern aus dem jetzigen Reich des Bösen erfreut hatten, übergaben diese dem Feuer märkischer Birkenscheite. Allein die Feuer spendenden Öllämpchen aus dem fernen Sibirien waren von der fürstlichen Sanktionsorder ausgenommen. Der heimische Fürst, ein Ausbund an Menschlichkeit, wollte nicht, dass seine tumben Untertanen in ungewärmten Zimmerchen sitzen sollten, kalte Vegetarierspeisen zu sich hätten nehmen müssen und dies auch noch bei völliger Dunkelheit.

Unser Mann aus dem Morgenland, ein gerissener und geduldeter Händler durch und durch, passte sich den fürstlichen Befehlen an. Um seine Berliner Kundschaft ersatzweise zu verwöhnen, die allesamt unter Wodka-. Dorsch-, Russisch Brot- und Borschtentzug litt, forcierte er den Verkauf nachwachsender Rohstoffe aus Marokko sowie Schnee aus Kolumbien. Diese Naturprodukte würden, so wusste er aus eigener lebhafter Erfahrung, würden ebenfalls temporäres Wohlbefinden mit sich bringen.

Auf sibirische Öllämpchen und selbiges Öl in Nachfüllschläuchen zu verzichten, das wollten die wohlstandsverwöhnten Bewohner und deren Fürst des dummen Städtchens dann doch nicht. Und so rollen die Gulden und die Rubel weiterhin nach Sibirien, auf dass alle Fürsten glücklich lebten bis an deren Ende.



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