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von Roger Letsch
Leserpost ist meist angenehm. So auch eine Mail von Frau H., die mich nach meinem Artikel auf Achgut und in der JR erreichte. Ich verglich dort – polemisierend – die aktuelle Impfmüdigkeit der Deutschen mit dem ebenfalls zunehmenden Antiamerikanismus. Allerdings ging ich auf die Impfgegner kaum ein, was Frau H. veranlasste, hier doch etwas mehr Differenzierung anzumahnen. Das möchte ich hier in öffentlicher Form kurz nachholen, auch wenn ich das Thema jetzt nicht erschöpfend behandeln kann, schon gar nicht aus medizinischer Sicht. Leserin H. schreibt:
„Wussten Sie, dass im Jahr 2015 in Afrika kein Kind an der Wildtyp-Poliomyelitis erkrankt ist; mehrere Kinder aber durch ein Vakzine-abgeleitetes Poliovirus? 2014 gab es weltweit 55 Fälle und 2013 sogar 66 Erkrankungen durch das Vakzine-Poliovirus. (aerzteblatt.de: Polio: Neue Impfstoff -Erkrankung in Mali; September 2015).
Die Frage sollte nicht heißen: „impfen – ja oder nein”, sondern: „wen, wann und wogegen”.
Weshalb wohl werden Säuglinge in Deutschland immer zeitiger und komplexer geimpft, obwohl sie eine Leihimmunität durch die Mutter haben sollten, optimalerweise ein dreiviertel Jahr an der Mutterbrust hängen und deren eigene Immunität sich nur langsam innerhalb der ersten beiden Lebensjahre entwickelt?
Cui bono? Herzliche Grüße!”
Sehr geehrte Frau H.,
Die Zahlen stimmen zweifellos. Die Impferei ist ein heikles Thema, das leider im Moment nur in der Dualität „Zwang“ oder „Bloß nicht!“ gedacht und hitzig diskutiert wird. Natürlich muss man von Fall zu Fall abwägen, ob die Risiken durch Nebenwirkungen (die es immer gibt) höher einzuschätzen sind als der Nutzen, also die Gefahren, die von der Krankheit selbst ausgehen. Das gilt für jede Impfung. Ich wurde als Kind beispielsweise noch gegen Pocken geimpft und weil ich die erste Impfung nur knapp überlebte, ließ ich im Alter von 14 die zweite aus. Heute impft man nicht mehr gegen Pocken, weil das Risiko hinreichend klein ist – oder die Nebenwirkungen zu groß im Verhältnis zum Risiko, sich anzustecken.
Ihr Beispiel aus Afrika belegt allerdings genau das Gegenteil dessen, was Sie mir vermutlich zeigen wollen. Polio ist nämlich durch die recht simple Schluckimpfung bei Kleinkindern recht gut „durchgeimpft“, auch und gerade in Afrika. Hier muss ich die WHO mal lobend erwähnen – was bei UN-Organisationen nicht oft vorkommt. Sie schrieben ja selbst: Null Fälle Polio im Jahr 2015. Die 55 der auf Impfungen zurückzuführenden Fälle sind natürlich schlimm.
Die Frage, die man sich stellen muss, wäre aber, wieviel mehr Kinder an Polio erkrankt wären, gäbe es die Impfung nicht. Man kann ja nicht einerseits eine Impfung durchführen, um die Krankheit zurückzudrängen und dann die Abschaffung der Impfung wünschen, weil es die Krankheit nicht mehr gibt. Denn die kann auch wieder kommen. So wie aktuell die Masern, wenn die Impfmüdigkeit* in der Bevölkerung nachlässt. Ich vermute jedoch anhand Ihrer Nachricht, Sie fordern diese Abschaffung nicht, sondern befürworten eine abwägende Herangehensweise.
Cui Bono
„Follow the Money“ ist natürlich immer eine gute Idee. Doch führt dies in diesem Fall nicht zum Ziel, das natürlich stets die Pharma-Industrie ist. Einen Impfstoff zu entwickeln kostet inklusive aller Studien, Tests und Zulassungsverfahren schnell mal zig-Millionen und dauert oft Jahre. Zulassungen ungewiss, Return-on-Investment ungewiss, politisches Umfeld: ungewiss. Erinnern Sie sich noch an die jährliche Vogel/Schweinegrippe, die ums Eck jagte, Politikern Bekenntnisse abrang, Forschungsgelder bereitzustellen, die mediale Schelte an die Pharma-Industrie, die Entwicklung „verschlafen“ zu haben…? Nach einem Jahr krähte kein Hahn mehr danach. In hysterischen Zeiten ist Langzeitforschung schlecht beleumundet und Pharmaunternehmen vermarkten lieber die 643. Anwendung von Aspirin oder therapieren Bluthochdruck oder Cholesterin.
Es sind die sogenannten „Zivilisationserkrankungen”, die medial leichter zu triggern sind, weil sie Heinz aus Hamburg oder Gabi aus Garbsen näher sind, als zurückgedrängte und weitgehend unsichtbare oder exotische Infektionskrankheiten wie Polio, Masern oder Dengue-Fieber. Das „wem nützt es” trifft hier also kaum die Pharma-Industie – es sei denn, man verlangt in schöner Berlin-Tradition, dass Profite bei der Herstellung von Pharmazeutika generell zu unterbinden seien und alle Güter der Daseinsvorsorge prinzipiell kostenlos zu sein haben.
Es gibt aber auch Ausnahmen, etwa HPV-Impfstoffe. Hier ist die Zielgruppe groß und das Angstmarketing erfolgreich und nachvollziehbarer als beispielsweise für Polioimpfungen – kaum jemand hat noch Fälle von Kinderlähmung in der Familie, ich selbst kenne überhaupt nur einen Menschen (wenn auch nicht persönlich), der unter den Folgen dieser Krankheit litt: Franklin D. Roosevelt.
Fehlallokation und falsche politische Weichenstellungen
Die Entwicklung von neuen Impfstoffen hinkt bis auf wenige Ausnahmen den Anforderungen oft hinterher. Doch nicht nur an der viralen Front hapert es, auch unsere Antibiotika an der bakteriellen Front werden immer wirkungsloser. Das hat nicht nur Ursachen in der Evolution der Bakterienstämme oder dem Missbrauch von Antibiotika für die Tiermast oder unsachgemäße Anwendung beim Menschen…auch mangelnde Forschung bzw. fehlende Durchhaltevermögen bei der Forschung ist ein Grund.
Grund dafür wiederum sind Fehlallokation von Kapital, Denkverbote bei der Zusammenarbeit von Pharmaindustrie und Universitäten und vieles mehr. Das meiste lässt ist dabei langfristig auf falsche politische Weichenstellungen zurückführen. Die Liste der stümperhaften Versuche unserer Gesundheitsminister, in den letzten 25 Jahren am Gesundheitssystem herumzuschnitzen, gibt davon ein beredtes Zeugnis.
Deshalb, und um dem rhetorischen Vergleich Antiamerikanismus vs. Impfmüdigkeit auch noch eine Schlussfolgerung bezüglich des Impfens anzufügen: eine Diskussion um Indikationen, Ausnahmen, Nebenwirkungen, beste Zeitpunkte und beste Wirkstoffe (Lebendimpfstoff, Totimpfstoff) usw. halte ich für absolut angebracht. Aufklärung tut hier sicher auch Not. Nicht weniger verstärkte Forschung. Eine generelle Ablehnung von Impfungen oder gar der Ersatz dieser Immunisierung durch irgendwelche Wundermittelchen, Naturheilverfahren, Tannenzapfentee, Topfschlagen oder tantrisches Fliegen (verzeihen Sie bitte die Polemik, Sie sind ja nicht gemeint) halte ich für gelinde gesagt grob fahrlässig.
Insofern gebe ich Ihnen Recht wenn Sie sagen, nicht „impfen – ja oder nein”, sondern: „wen, wann und wogegen“. Ich musste diese Aussage für meinen Artikel allerdings etwas absoluter setzen, weil auch die Frage heute sehr viel absoluter gestellt wird.
Herzliche Grüße
Roger Letsch
* Hier sollte es natürlich „Impfbereitschaft” heißen. Der Fehler (oder die Stilblüte) muss aber nun so stehen bleiben, weil sich ein Kommentar darauf bezieht. Es geht übrigens nicht nur um die Masern, die noch gut durchgeimpft sind, sondern um eine generalisierte Ablehnung von Schutzimpfungen. Eine kurze Google-Suche zeigt demjenigen, dem die fast schon hysterischen Verschwörungstheorien der Impfgegner entgangen sein sollten, worum es geht.
Quelle:unbesorgt.de